Interview Hans-Christian Dany mit Christoph Schäfer und Margit Czenki aus dem Buch "Wilhelmsburger Freitag", Hg. von Britta Peters, Hamburg 2008. Interview Herbst 2007

Videotaxi - Ganz wie zu Hause

Ein seltsames Taxi taucht während der Ausstellung auf der Veddel auf. Die dunkle Limousine ist mit Diagrammen, angedeuteten Strassen, Linien und scheinbar unzusammenhängenden Begriffen überzogen. Ausgestattet mit Monitoren und Soundsystem, Bordbar und Chauffeur verbindet der fahrende Videopavillion Elemente des Heimkinos, des Hörspiels, des Bildungstourismus und des konzeptuellen Essayfilms.

Das Videotaxi patrouilliert wie ein Polizeiauto durch die Veddel. Es tastet sich auf einer festen Route entlang der Grenzen, der „Einbruchslinien des Globalen in den bewohnten Raum“. Auf regelmäßigen Touren durch die Nachbarschaft untersuchen Texte, Bilder und der Blick aus dem fahrenden Auto den Paradigmenwechsel in der Planungspolitik der globalisierten Mächte, die Wandlung von Industrieproduktion hin zur Erzeugung von Images unter Seriennamen wie „Wachsende Stadt“ oder „IBA 2013“. Der mit einem elektronischen Soundtrack unterlegte Erzähltext ist unterschnitten mit einer Geheimgeschichte des Films, des Begehrens und der Technologie.

Dany: Für mein Empfinden steht die Schärfung des Blicks im Zentrum des Videotaxis. Es ist eine suchende, beobachtende Form, die sich von eurer Haltung in anderen Arbeiten unterscheidet, in denen die Gegenbehauptung eine große Rolle spielt. Das Videotaxi tastet sich seiner Umgebung entgegen und lädt den Betrachter - genauer Benutzer - ein, sich dieser Bewegungsform anzuschließen. Ein Taxi nutzen Menschen häufig, wenn sie an einem neuen Ort ankommen. Es hilft ihnen sich in unvertrauter Umgebung zu orientieren.

Wir hatten uns aufgemacht, eine andere Stadt zu finden. Uns interessierte nicht die Stadt der Architektur, der Stadtplanung, nicht der Blick der Investoren. Wir suchten etwas anderes: die Stadt der Leute, des bewohnten Raums, der Aneignung. Wir setzten uns auf die Spur der Einbruchlinien des Globalen in die Stadt des Alltags.

Czenki: Wir haben uns gefragt: wie geht man mit der Erwartung an Kunst um, die in einem Stadtentwicklungs-Kontext offenbar "unentdeckte Schätze" heben soll? Von der erwartet wird, dass sie die beobachteten Phänomene so "umformatiert", dass sie in einen multikulturellen Gentrifizierungsrahmen hineinpassen? Gibt es Orte, die eine Widerständigkeit gegenüber einer solchen Vereinahmung in sich tragen?
Uns kam es darauf an, die Orte, die wir gefunden hatten, nicht dem touristischen Blick oder dem Ausstellungsbesucherblick auszuliefern, sondern einen eher intimen Innenraum zu erzeugen, und dort, in der geschützten Privatsphäre einer Familienlimousine, „ein Bild“ dieser Orte zu zeigen.
Das Videotaxi wurde als Medium konzipiert, um die Veddeler selbst für unseren Blick zu interessieren: Man steigt unverbindlich aus und ein, kann mit einem Drink in der Hand durch die vertraute Nachbarschaft gleiten und sie anders sehen.

Dany: Das Auto ist zugleich Linse und Leinwand...

Czenki: Das wird unterstützt durch die Asynchronität des Innen und Außen, in dem Bilder, Töne, Geschichten das Gewohnte fremd machen. Das Fahrtempo wechselt, dann kommt es wieder zu festen Haltepunkten an den Begrenzungen der Veddel - dem Freihafenzaun, der Autobahnbrücke, den Bahngleisen, der Ausfallstrasse. Das Außen verwebt sich im Taxi mit der Musik, mit dem gesprochenen Text und den gezeigten Bildern. Wann welche Elemente durch den Fahrer eingespielt werden, folgt einer bestimmten Choreographie. Meine Lieblingsstelle ist der Moment, in dem man am Deich entlang zur Brücke fährt. Dadurch dass auf der Tonebene über einen Autorikschafahrer gesprochen wird - die Seefahrerkarte, der Steuermann - öffnet sich der Blick auf die Veddel, weitet sich über den Deich. Da setzt man die Veddel mit der Welt in Beziehung.

Wir stecken fest. Die lärmige Masse knatternder Autorikschas, staubiger Marutis und bemalter Lastwagen bewegt sich zäh durch Delhi, die 12 Millionen Metropole.

Ich sehe zur offenen Tür raus. Delhi ist eine Stadt, die niemand kennt. Das Gewühle der Zweitakter. Links knallen Bollywoodbeats aus der Anlage, rechts steht ein Mann auf dem Außenbrett eines überfüllten Busses. Da schiebt sich eine ungewöhnliche Autorikscha ins Sichtfeld. Mein Blick fällt auf ihre Sitzbank, die mit einer alten Landkarte, einer antiken Seefahrerkarte gepolstert ist. Keine Ahnung, wieso der Rikschafahrer sich ausgerechnet diesen Bezug ausgesucht hat.

Die Karte scheint eine Inselgruppe wiederzugeben, aus der Zeit der Entdeckungen. Eine Karte, der noch anzusehen ist, dass das Wissen des Zeichners Lücken hat. Eine unkomplette Karte, die von sich weiß, dass sich unbekannte Universen in ihren Leerstellen verbergen. Das sagt was über das Fahren in den unkartierten Weiten der Megametropole. Der Navigator kennt die Ströme zwischen den Landmarken, die Namen der Inseln, aber er ahnt nur, welche Welt, welche Gefahren im Inneren lauern. Ein Steuermann, der eine Beziehung herstellt zwischen der explodierenden Megametropole und
jener Epoche der Entdeckungen, als mit jeder neuen Insel neue Versprechen auftauchten, mit jeder Erzählung von neuen Ländern die Produktion von Vorstellungen ausgelöst wurden.

Dany: Die Leerstellen der Karte beschreiben unvermessene Gebiete, deren Bedingungen kaum eingeschätzt werden können. Sie zwingen dazu, sich ihnen durch genaue Betrachtung zu nähern. Habt ihr etwas von dieser Bewegung übernommen, um euch dem Viertel und seinen Bewohnern anzunähren? Resultiert daraus die tastende Kameraführung?

Czenki: Die Kamera richtet sich nach den Orten und nach uns, den Betrachtern – sie ist subjektiv, gibt keinen Überblick, sondern bewahrt das Geheimnis der Orte. Beim „Zigeunergarten“ schweift sie von einem Gegenstand zum anderen, nach deren eigener Logik. Gespräche in einer seltenen Sprache im Hintergrund verstärken das Private und Geheimnisvolle, leise Kling-Klang-Musik unterstützt das Brunnenplätschern.
Beim Auswanderermuseum holt die Kamera die Schumacherbauten der Gegenwart in die alten Auswandererportraits und umgekehrt.
Der Autohof ist starr, nur die Laster fahren rein und raus, die Fahrer steigen ein und aus, Marita geht bedienend hin und her.
Die verschiedensten Geräusche von Verkehr, Hafen, Radioschnulzen, verstärkt durch die Musik von Ted Gaier, vorwärtstreibend.
Im Egepalas dreht sich die Kamera im Kreis und holt die Hochzeiten, Feste, Filmvorführungen imaginär herein. Dieses Schaben, Schlagen, gegen den Strich ächzen, Pausen erzwingen, Asynchronität simulieren. Das Kino hört man dann auch ein bisschen.
Das Foto eines mazedonischen Dorfes - Häuser am Hang, ein Fußballplatz im Vordergrund - sind in einer Kamerarückfahrt groß zu sehen, aber in dem Moment, als sich seine Bedeutung durch den Text erschließt, ist es schon nicht mehr zu erkennen, bleibt es nur noch ein kleines Bild in einem Eiscafe.

 

Das Eiscafé Venezia auf der Veddel ist ein guter Ort um eine urbanistische Recherche zu starten: schließlich ist Venedig der Bezugspunkt der traumhaften Beschreibungen in Italo Calvinos „Unsichtbaren Städten“. Dieses Venezia ist ein mazedonisches Lokal. Man unterhält sich bei Kaffee und Zigaretten. An den Wänden hängen zwei große Bilder, wie man sie kennt. Doch ein kleines Foto fängt meine Aufmerksamkeit. Die Komposition ist ungewöhnlich, gar nicht postkartenmässig. Ich gehe näher ran und frage mich, warum das hier hängt. Ein älterer Herr im Café bemerkt mein Rätseln und erklärt: dies war unser Dorf in Mazedonien, und das ist von der NATO vollkommen zerbombt worden.

 

Dany:  Ein zerfallenes Sprechen wird aufgerufen, das sich aus unterschiedlichsten Sprechweisen und Tönen zusammensetzt. Spricht eine Stimme, spricht sie für viele Stimmen und scheint sich aus vielen Stimmen zusammenzusetzen.

- Woher kommen die Leute, die hier essen?
- Ja, viele auch hier aus dem Ort. In der Gegend sind auch viele Wochenendhäuser. Im Sommer, die kommen denn auch hierher. Auch viele von der Autobahn, und eben die Fernfahrer.
- Auch viele aus Osteuropa, vermutlich.
- Auch. Jetzt. Seitdem.
- Und machen sie das wirklich so, wie zu Hause, wenn sie die Leute versorgen?
- Ja. Sieht so aus. Auch wenn sie mal Sonderwünsche haben, machen wir auch. Wir versuchen das jedenfalls. Wenn's im Rahmen ist, machen wir das auch.
- Dass die sich hier gemütlich fühlen, wenn sie eh schon so lang unterwegs sind.
- Ja, richtig. Wir machen hier auch Fussball an. Als WM war, dass die hier Fussball gucken konnten. Ja. Wir haben auch schon Feste gemacht. So Truckermusik.
- Haben sie auch schon gemacht?
- Haben wir auch schon gemacht.
- Die kommen ja immer wieder wahrscheinlich, oder? Wenn's denen hier so gut geht?
- Ja, die kommen gerne wieder her.
- Dann kennen sie die wahrscheinlich auch so'n bisschen.
- Alle, auch mit Namen. Viele, ja.
- Und würden die sich hier waschen?
- Ja, wir haben alles, Duschräume, haben wir alles da. Auch für Damen.
- Und kommen auch Damen?
- Die kommen auch, ja. Vor allem wenn Ferienzeit ist, die Männer, die bringen auch ihre Frauen mit.
- Ah!
- Die müssen ja sehen, wer sie bedient! Die hören immer nur von uns...

 

Die in Raum und Zeit inszenierte Dramaturgie lotet fünf Orte aus, die jeweils Stellvertreter sind für einen Umgang mit Orten. Der Erste, der „Zigeunergarten“, zeigt eine selbstgebaute Idylle, der Zweite, das Auswanderungsmuseum, die staatliche Darstellung der sprachlosen Bevölkerung. Der Dritte, der Rastplatz in Georgswerder, an dem Marita arbeitet, ist ein Transitort und der Vierte, der Egepalast, das ehemalige Kino, ein selbst organisierter Ort der Gemeinschaft, den die Menschen dort angelegt haben. Der fünfte Ort tritt nur im Bild auf, die Heimat. Eine Heimat an die man sich nur noch erinnern kann, weil es sie nicht mehr gibt, da der Krieg sie zerstört hat.

Würdet ihr dieser Lesart der Orte oder Sequenzen folgen?

Czenki: Dieser Ort, den du als „staatliche Darstellung“ beschreibst, das Auswanderermuseum - es ist unumgänglich, sich damit zu befassen und ihn in Beziehung zu setzen zu den kleinen, selbstgeschaffenen Orten.

Dany: Die Stimme aus dem Off spricht in diesem Teil auch in einer komplett anderen Sprache.

Czenki: Auf der Bilderebene - da gibt es diese sehr schönen alten Fotos von Auswanderern um die Jahrhundertwende, die in der Museumsausstellung nie in angemessener Form gezeigt werden. Außen sind sie auf Fahnen geplottet, die ich so gefilmt habe, dass sich die Motive darauf, Personen, ein Schiff, mit der Veddel verbinden, durch die Transparenz der Fahnen verweben. Im Schiff erscheinen die Fenster der Schumacherbauten dahinter, Bäume bewegen sich hinter Gesichtern von Leuten, die vor hundert Jahren da standen.

Schäfer: So, wie Margit gefilmt hat, bekommen die Bilder ihre Würde zurück, die sie - auf dem Weg aus dem Lager, in die Archive, auf die Werbeplots vor dem Museum - verloren haben. Dort wurden die Fotos ja mit neuen Slogans versehen, die ihre vielschichtigen  Bedeutungsebenen auf Hamburg-Marketing-Gags verkürzen: „Heimat und Zukunft“, „Tradition und Moderne”, „Angst und Hoffnung“. Das sind verniedlichende Etiketten, die Leuten angeheftet werden, die auf der Flucht vor Elend oder Pogromen fotografiert wurden. Die Auswanderer werden zu frühen Pionieren eines neoliberalen Flexibilisierungsparadigmas uminterpretiert - im Sinne von, „Hey, die Auswanderer, das waren keine Opfer. Das waren nämlich Unternehmer, die da durch das Lager gegangen sind. Wir gucken uns das jetzt mal positiv an. Das ist der port of dreams.“ An andere Stelle im Museum werden dieselben Fotos sehr mechanisch animiert. Sie bekommen das Leben von Automaten - während Margit’s Video den Personen eine eigenartige Rückkehr, einen poetischen, etwas gespensterhaften Auftritt in der Gegenwart ermöglicht.

Um auf die Orte zurückzukommen - daran interessieren uns sehr unterschiedliche Ebenen: die der Globalisierung, die aus dem Alltag heraus entwickelt wird, wie am ersten dieser Orte, dem Garten von Herrn Weiss. 15 qm, vollgestopft mit mehreren gefundenen Pavillons, Skulpturen, Nippes, Märchenfiguren, Schiffen, Kutschen, einem Brunnen... Er hat einen kompletten chinesischen Pavillon im Vorgarten. Im Gespräch betont er, dass er nie im Ausland war, und dass es sich um einen „Zigeunergarten“ handelt. Man bekommt den Eindruck, dass der exotisierende Blick anverwandelt, mit eigenen Sehnsüchten angereichert und sozusagen in den eigenen Garten hineingeholt wird. So ist eine Trashversion eines romantischen Landschaftsgartens entstanden, bei der ganz klassische Elemente - follies, Wasserspiele, Pavillons - in einer unglaublichen Sammlung collagiert werden, die man besser gar nicht interpretieren sollte.
        
Eine Sechzigerjahre Siedlung.
30 gleiche Einfamilienhäuser.
...Die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum erklären sie für ungültig. Der Bürgersteig wird zur Ausstellungsfläche, der Asphalt zur Spielstrasse, der Vorstadtgarten zur Werkstatt. Sie schmücken das Dach, ergreifen Gräben, überwuchern Teiche, ersetzen Gartenzäune....

Durch die unterschiedlichen Orte wird eine Geschichte erzählt, der Globalisierung und der Migration, die natürlich eine Geschichte der Leute ist, die sich im Raum niederschlägt und die sofort Orte schafft und produziert, wo sie hinkommt. Als ein aus dem Alltag entwickeltes Stadtmodell setzen wir diese Orte dem entgegen, was gleichzeitig die Veddel prägt, nämlich diesem globalen Blick der Industrialisierung. Der hat sich in Infrastruktur-Maßnahmen niedergeschlagen, in Hafenbecken, Schneisen von Autobahn und Eisenbahntrasse. Und in der Schumacher-Architektur, die das Wohnen auf einen objektivierbaren Gebrauchswert reduziert. Dieser globale Blick schlägt sich dort heute ein zweites Mal nieder, jetzt bezeichnend für den Übergang von der Industrie- zur Imagekultur, vergegenständlicht sich als port of dreams und verdichtet sich in der Figur Reinhard Wolf, dessen Lebenslauf auf der Tour vorgelesen wird. Es ist doch signifikant, dass ein Anwalt, der in der Handelskammer für Infrastruktur zuständig ist, jetzt ein Kulturprojekt nach dem anderen aufsetzt. So Strebertypen sind das also, die diese Kreativimagekonzepte für die Handelskammermitglieder übersetzen. Dadurch werden bestimmte Phänomene erst erklärlich. Denn der alberne Marketingspruch auf so einem historischen Foto-Poster vor einem Museum, entspringt natürlich genau der Ideologie, der zu Folge Kultur und Image für die Wirtschaft und den Standort eine Rolle spielen. Auf Basis dieser Denke fließt dann Geld in so etwas wie das Auswanderermuseum - und mehr als die Anforderung aus dem Vermarktungsprofil, so etwas wie wissenschaftliche Genauigkeit etwa, leistet diese Institution dann auch nicht mehr.

Czenki: Kitsch.

 

Auf einem dieser Stücke, Überbleibsel großräumiger Planung, Reste zwischen Deich, betoniertem Hafenbecken, Eisenbahnlinie und Autobahntrasse, eine mit zerzausten Plastikpalmen geschmückte Einfahrt zum Egepalas Eventcenter. Von außen unscheinbar, flutbeschädigt und von An- und Umbauten entstellt, öffnet sich innen ein riesiger Ballsaal mit Hochzeitsthron. Bevor der Raum zu einem Ort des kollektiven, wenn auch familiären Glücks wurde, befand sich eine andere Massenvergnügungsstätte darin: bis in die frühen sechziger Jahre war dort ein Kinosaal mit 400 Plätzen, die Georgswerder Filmbühne. Noch heute geht es über eine Wendeltreppe zur Vorführkabine, aus der die Bilder projiziert wurden, die das Kollektiv auf die Reise schickten.

Man stellt sich eine Geschichte der Technik und der Medien falscher Weise getrennt vor von einer Geschichte des Vergnügens. Aus Polizeiakten wissen wir, dass bereits 1901 ‚lebende Photographien’ in Hamburger Lokalen vorgeführt wurden. Der kurze Moment, in dem das Vergnügen des Kinos wirklich international war, als die Stummfilme aus Frankreich, Skandinavien, Deutschland, Russland und USA weltweit vertrieben wurden, und Charlie Chaplin als der erste wirklich internationale Weltstar.

Dany: Könnt ihr zu den wiederkehrenden Hinweisen auf die Filme Charlie Chaplins noch etwas sagen?

Schäfer: Es geht um Filme an Orten - Filme, die durch den Kontext eine neue Bedeutungsebene bekommen.

Ein Moment in der U-Bahn von Kalkutta fällt uns ein. Es war an einem Sonntag, die Züge fuhren selten, und auf den überall angebrachten Bildschirmen lief einmal keine Werbung, sondern „Modern Times, der letzte Stummfilm von Charlie Chaplin.

Der ganze Bahnhof starrte gebannt auf die Monitore, und für einen Moment waren wir Teil eines indischen lachenden Kollektivs, das mit der hereinbrechenden Moderne und ihren Versprechungen und Bedrohungen fertig werden musste.

Tags zuvor hatten wir eine Szene beobachtet, die diesem Film von 1936 entnommen zu sein schien: ein Mann mit Frau und Mutter, die offenbar erstmals die Rolltreppe benutzen. Er brachte zuerst die Mutter runter und rannte dann wieder die Treppe hoch, um seine Frau auf die Rolltreppe zu begleiten.

Zwei großstadtgewohnte Kinder, die die Szene beobachtet hatten, begannen demonstrativ ihre Souveränität gegenüber der Technik des Laufbandes vorzuführen, rutschten das Geländer runter und kletterten gegen die Fahrtrichtung hoch.

 

Schäfer: Der andere Ort ist das Auswanderermuseum, das mit einem enormen Aufwand an Material, Geld, Logistik und Mitarbeitern, es nicht hinbekommt, seine zentrale Geschichte einmal in Ruhe zu erzählen.

Bildpolitik und Orte der Fälschung
Die Bilder haben ihre Unschuld verloren.
In einem nachgebauten Schiffsrumpf im Auswanderermuseum wird Charlie Chaplin’s „The Immigrant gezeigt. Der Film von 1917 wurde nicht im Breitformat gedreht, in dem er hier als Video projiziert wird, nämlich verzerrt und häufig mit angeschnittenen Köpfen, als Höhepunkt der mit 9 Millionen Euro geförderten Ausstellung.

Uns erinnert die Art, wie der Film ins Format gedrückt wird, an die gegenwärtige Hamburger Praxis, Kunst im öffentlichen Raum für stadtentwicklungspolitische Ziele zu instrumentalisieren.
In einer Entscheidung der Bürgerschaft heißt es unter dem Betreff 10°KUNST:

Der Senat wird ersucht, (...) im Hinblick auf „Kunst im Öffentlichen Raum“ den Schwerpunkt der Projekte der Kunstkommission zunächst in die HafenCity zu verlagern und zeitnah den Sprung über die Elbe kulturell zu begleiten.

Wir haben uns mit Medien befasst, die auf Orte zugeschnittenen werden, deren Bedeutung als Werk sich durch den Kontext verändert - als geglückte Rekontextualisierung in der U-Bahn von Kalkutta, die den emanzipatorischen Gehalt und den damit verknüpften Humor aktualisiert - und als Instrumentalisierung und Verstümmelung im Falle der Formate „10° Kunst“ und „BallinStadt“, in denen eine Disziplin, die einmal wissenschaftlichen Anspruch hatte, so unter die Räder gerät, dass sie nicht mal mehr die digitale Formatfrage gelöst bekommt.

Dany: Chaplin musste auch sehr genau gucken, um das Fließband als wahnsinnigen Witz zu erzählen. Durch diese Genauigkeit fanden seine Filme zu so einer tollen Form von künstlerischer Kapitalismuskritik.

Schäfer: Es war Medienmystik, mit der wir bei den Recherchen auf der Veddel konfrontiert wurden. Wir trafen jemand, mit dem wir ein Interview machen wollten, und plötzlich verdächtigte er uns, ihn heimlich mit dem Handy gefilmt zu haben. Das war relativ absurd, aber das Handy war plötzlich das Moment der Spionage, was ja auf unheimliche Weise wahr ist. Jedes Handy wird im Prinzip zur Wanze. Dass jemand das so sieht, und dass jemand Medien so sieht, das hat uns eigentlich darauf gebracht: da haben wir doch in Indien so was Ähnliches gesehen, mit einem Transportmittel der Epoche davor, sozusagen. Das war so eine eigenartige Korrespondenz, die da auftauchte. Da wird eine Stadt, Kalkutta, plötzlich mit Monitoren versehen - und wir fahren mit unseren kleinen Familienautomonitoren durch eine Stadt hindurch. Der öffentliche Raum wird mit kleinen, medialen Plug-Ins durchsetzt und darin läuft eine Geschichte, die 80 Jahre vorher gedreht worden ist und plötzlich wieder funktioniert, als Wunschmaschine, als Gegenmodell zum Abgehört werden, zu der Abtastung von Subjektivitäten in mySpace, google oder StudiVZ.

Dany: Ihr bewegt euch in sehr weiten Kreisen. Das Zentrum eurer Praxis fand aber lange Zeit auf einem Terrain statt, das euch sehr nah war. Ihr habt in der direkten Nachbarschaft agiert - Park Fiction war direkt vor der Tür. Jetzt habt ihr euch gar nicht so weit von dem Ort entfernt, an dem ihr wohnt, aber es war nicht der vertraute Bereich. Hat das eine Rolle gespielt?

Czenki: Die Projekte kann man nicht vergleichen. Hinter Park Fiction stand immer ein Netzwerk, da war man nicht alleine. Ähnlich ist, dass es auch immer Interessen der Stadt gab, den Park zu haben, dann wieder nicht zu haben und dass wir immer mit Institutionen, dem Senat, konfrontiert waren. Was macht man da, ohne sich Vereinnahmen zu lassen - immer ein Hin und Her. Aber mit einer Gruppe, aus dem Zusammenhang einer politischen Bewegung heraus.

Ich denke man hätte bei dieser Ausstellung mehr sichtbar machen können, worauf wir rauswollen und diesen Inhalten mehr Gewicht und Durchsetzungsvermögen geben können. Ein Treffen aller beteiligten Künstlerinnen und Künstler im Vorfeld, um sich untereinander über die IBA, die Funktion der Ausstellung für die IBA auszutauschen, hätte uns allen klarer gemacht, was wir da wollen. Politisches Handeln unterscheidet sich ja erst durch gemeinsame Bezugnahme und kollektive Organisation von bloßer Meinung. Dann wären Einzelarbeiten mit verschiedenen Ansätzen entstanden, aber man hätte der Problematik und den Institutionen mit einer gemeinsamen Haltung entgegen treten können... So war das aber nicht angelegt.

Wir wussten zum Zeitpunkt der Videotaxiplanung z.B. nicht, dass der IBA-Stab fast personalidentisch ist mit dem Olympia-Planungsstab. Ich hatte gedacht: OK, wir werden noch Jahre mit diesen Phänomenen befasst sein, Wachsende Stadt, Sprung über die Elbe, diesem ganzen Maritim-Scheiß, der sich auch im Auswanderermuseum ausdrückt. Also nehmen wir das Projekt zum Anlass, um uns das genau anzugucken. Jetzt denke ich, die IBA will über die Kunst ausschließlich ins Gespräch kommen.

Dany: Wie habt ihr reagiert, als ihr zu diesem Projekt eingeladen wurdet, dass durch seine Anbindung an die Internationale Bauausstellung (IBA) eine Indienstnahme der Kunst für die Stadtentwicklung vorgibt?

Schäfer: Zunächst: wir sind von Britta Peters zu einem Projekt der Kulturbehörde eingeladen worden, und nicht von der IBA. Der stadtentwicklungspolitische Kontext war zwar deutlich, aber dass die Kunst von der IBA instrumentalisiert werden würde, war für mich zunächst nicht ausgemacht: die vorangegangene IBA im Ruhrgebiet hat durchaus Räume für die Kunst erschlossen, Gelände für die Bewohner aktiviert, die jahrzehntelang als Spekulationsware brach gelegen hatten. Durch die Stadtübergreifende IBA-Emscher-Park, gab es ein Instrument, um die lähmende Städtekonkurrenz im nördlichen Ruhrgebiet und den Stillstand der Region zu durchbrechen. Es wurden neue Funktionen für Industrieareale erfunden, mit Brachen gearbeitet, riesige Flächen renaturiert.

Die Hamburger IBA knüpft, im Gegensatz dazu, an die engen Vorstellungen von Stadt, wie sie von Handelskammer, Hamburg Marketing und dem Konzept Wachsende Stadt gesetzt werden, an. Eine sich autonom verstehende IBA würde sich dazu kritisch positionieren, also Strategien gegen Gentrifizierung entwickeln, gegen eine Unterwerfung der Stadt unter das Standortparadigma arbeiten, experimentelle Freiräume für Bewohner erschließen, radikal demokratisierte Planungsverfahren erproben und sich so zugänglich wie nur denkbar organisieren.
Der vergangene Sommer hat aber sehr deutlich gemacht, dass etwas derartiges überhaupt nicht gewollt ist. Man hat sich ein paar Open-Source Vokabeln geliehen und schreibt in der Hauptsache die von den letzten Resten sozialdemokratischen Ballasts bereinigten Sanierungskonzepte der frühen achtziger Jahre fort, die sich schon lange als Verdrängungsprojekte entpuppt haben.

Nach dem Scheitern der Hamburger Olympiabewerbung, setzt man nun auf Kunst, Kultur und Internationale Bauausstellung, um die Stadtteile südlich der Elbe an den Immobilienmarkt anzuschließen. Bis vor wenigen Wochen hatten wir das als generelle Tendenz zur Gentrifizierung in Zeiten der Imagecity verstanden. Doch diese Sichtweise erscheint uns heute verharmlosend. Bei unseren Recherchen stoßen wir immer wieder auf dieselben Namen und Organisationen - es handelt sich also um einen gesteuerten Prozess. Zum Beispiel Reinhard Wolf:
Vorstandsvorsitzender der Stiftung Hamburg Maritim. Diese hat die Auswandererhallen entwickelt.
Ein Hafenerlebnispark ist in Planung.
Wolf ist:
Syndikus der Handelskammer, Fachgebiet Infrastruktur.
Zuständig für Hamburgs Olympiabewerbung.
Vorstand Stiftung Leistungssport – eine Gründung der Handelskammer
Co-Autor des Papiers „Wachsende Stadt“.
Veranstalter von Symposien zum Thema Transrapid
Referent zur Entwicklungsperspektive der Elbinsel
Jurymitglied Aussichtsturm IBA Hamburg 2013
Stellvertretender Sachpreisrichter Architekturwettbewerb Spielbudenplatz
Unterstützer der Blue Goals.
Zusammen mit einem Ex-Vorstand der HSH Nordbank, ist Wolf als Privatmann an größeren Immobiliendeals im Univiertel beteiligt.

Dany: Die Interessen der Aufwertung der Veddel und Wilhelmsburg sind recht durchschaubar. Ihr thematisiert das und liefert zusätzliche Information. Was ich mich frage, lädt man sich kritische Positionen wie euch dazu ein, um vorzuführen, schaut, wir können uns sogar die Kritik daran leisten? Oder lassen sich dahinter strategische Überlegungen ausmachen, wie die der Simulation einer demokratischen Kultur?

Czenki: Dahinter stehen schon strategische Überlegungen, aber andere als die, die du beschreibst. Da soll einfach nur Trubel sein in diesen Stadtentwicklungsgebieten. Wie der genau aussieht, ist in diesem Zusammenhang relativ egal. Kunst gehört irgendwie in die Mischung, ob sie kritisch ist, das kümmert die Planer nicht.

Schäfer: Ich denke, was Dany beschreibt, war die klassische Funktion von Kunst in der Sozialdemokratie: Du darfst in der Kunst jede Menge kritisieren und die, die das finanzieren, heften sich einen Toleranzausweis an. In diesem Fall wurde, glaube ich, anders gearbeitet und zwar mit einer eigenartigen Form von Partizipations- und Rhizom-Strategie. Bemerkenswert ist daran, dass da auf einer gewissen Ebene tatsächlich in Netzwerken gearbeitet und gedacht wird, gleichzeitig werden auf einer anderen Ebene aber alle Zügel in der Hand behalten. Der Rhizom-Struktur wird eine hierarchische Struktur übergestülpt. Teile der musikalischen, aber auch der politischen Subkultur wurden innerhalb der Projekte nach Wilhelmsburg geholt. Worauf dann von den Organisatoren genau geachtet wurde, war - und da besteht aus meiner Sicht ein ziemlicher Unterschied zu der Situation vor 5 oder 10 Jahren - dass die Kanäle, über die das ganze öffentlich wird, genau kontrolliert werden. Das ist ein im Moment an verschiedenen Orten zu beobachtendes Phänomen, für das die IBA nur ein Beispiel ist. An bestimmten Stellen wird in die Vielfalt gegangen und an anderen Stellen wird ganz stark gebündelt. Kernaussagen werden kontrolliert und entpolitisiert und selbstverständlich werden die Geldströme kontrolliert.

Wir waren aufgebrochen, um eine andere Stadt zu finden – eine Stadt der Aneignung, Orte, die offen sind für das Außen. Und das erste, was uns begegnet, ist ein Ort, der zwar offen ist, der jedoch ein höfliches aber entschiedenes Nein formuliert gegenüber einer restlosen Integrierbarkeit in das entpolitisierte Bild einer multikulturellen Vielfalt.