Zurück zum Beton

Folgt in Hamburg auf das Leitbild der »Kreativen Stadt«
nach Richard Florida die Rückkehr des industriellen Städtebaus?
Sind teure Restaurants wirklich besser als Theater?
Wird der Senat gar den Bau der Elbphilharmonie stoppen?
Fragen, die sich der Künstler, Aktivist und
Urbanist Christoph Schäfer gestellt hat,
nachdem er Triumph of the City* von Ed Glaeser
gelesen hat: Ein Buch, das Bürgermeister Olaf Scholz
öffentlich seinen Senatorinnen und Senatoren ans
Herz gelegt hat.

Im Sommer hatte ich Gelegenheit mit Stadtteil-Aktivistinnen
und Aktivisten aus St. Pauli die amtierende Stadtentwicklungssenatorin
Jutta Blankau zu treffen. Wir wollten mit ihr über die galoppierende
Gentrifizierung des Stadtteils sprechen und sie auffordern
die Notreißleine zu ziehen. Doch unsere Argumente prallten an ihr
ab wie Flummis. Eine verblüffende Abwesenheit jeglicher stadtpolitischer
Vision wehte uns entgegen. Die Stadtdiskurse der letzten
zwei Jahrzehnte scheinen an der Ex-Gewerkschafterin vorbei gegangen
zu sein. Und die Flucht des Finanzkrisenkapitals in die Hamburger
Immobilienwirtschaft scheinen ihr Chimären zu sein – ebenso wie
die soziale Spaltung der Stadt. Wir standen vor einem Maelstrom an
Borniertheit, in dessen Zentrum alles, was je zum Thema Stadt, Architektur
der Moderne, Kultur im Allgemeinen und St. Pauli im Besonderen
gedacht worden ist, verschwindet. Selbst die – zu Recht kritisierten – »Creative City«-Ansätze sind im Vergleich dazu noch ganz großes Tennis.

Vielleicht ist die Idee von Olaf
Scholz also gar nicht so schlecht:
seinen Senat mal ein Buch lesen zu
lassen. Ein Buch über die Stadt.
Der französische Metaphilosoph
Henri Lefebvre hat Ende der
Sechziger Jahre den Slogan »Recht
auf Stadt« geprägt. Lefebvres Thesen
werden heute nicht nur unter
Architekten, Philosophen, Künstlern
und Wissenschaftlern diskutiert,
sondern auch von politischen
Basisbewegungen aufgegriffen –
an so unterschiedlichen Orten wie
Neu Delhi, Istanbul oder Durban,
Südafrika. In den USA gibt es eine
Right to the City-Alliance, in Hamburg
das Recht auf Stadt-Netzwerk.
Die Stadt ist für Lefebvre der
angeeignete Raum. Ein Raum, der
offen ist für das Fremde, ein Raum
verdichteter Unterschiedlichkeiten.
Verstädterung ist nicht nur ein
Phänomen, sondern zugleich ein
gesellschaftliches Ziel. Die Stadt Lefebvres
ist eine Maschine aus Möglichkeiten,
das Versprechen einer
post-industriellen Gesellschaft, die
sich von der Dominanz des Kapitals
über den Raum, vom Zwang
zur Arbeit emanzipiert und ihr Alltagsleben
in Poesie verwandelt.
Das passt zu einer Bewegung
wie der in Hamburg, wo Künstler
sich mit Mietern verbünden, Innenstadtviertel
besetzen, Wunschproduktionen
gegen Supermärkte
oder umherschweifende Kongresse
organisieren; wo Fußballfans zu
politischen Akteuren werden. Der
Herausforderung durch die im urbanen
Raum verankerten Konflikte
hat die Politik inhaltlich bisher we-
nig entgegengesetzt. Zwar war die Mietenfrage ein entscheidendes
Thema im letzten Wahlkampf – doch die
neue Senatorin Blankau machte sich gleich zum Amtsantritt
mit der Behauptung unmöglich, in Hamburg
gäbe es keine Wohnungsnot.
Offenbar können Olaf Scholz und sein Senat geistige
Munition ganz gut gebrauchen. Die soll nun Edward
Glaeser liefern, ein Harvard-Professor, der seinen
Doktortitel in Ökonomie an der Kaderschmiede
des Marktradikalismus, der University of Chicago, erwarb.
»Triumph of the City« heißt sein neues Buch,
und Scholz hat es allen im Senat zur Lektüre empfohlen.
Was in den späten Sechzigern den Ausgangspunkt
für Lefebvres Denken bildete – dass das Industriezeitalter
mit seinen auf Bedürfnisbefriedigung reduzierten
funktionalen Fabrikstädten sich dem Ende zuneigt
und die Stadt erneut an Bedeutung gewinnt für die
Produktion von Ideen, Haltungen, Moden, Lebensstilen
und folglich: Wert – dieser ›urban turn‹ wird bei
Ed Glaeser zum Triumph der Stadt.
Diametral entgegen gesetzt ist allerdings
die ökonomistische Perspektive, aus der heraus
Glaeser diese Entwicklung beschreibt.
Sein Werk strahlt Potenz aus. Erleuchtete
Skyscraper zieren das Cover, zwischen den
Deckeln breiten sich die Powerformeln aus
Marketing-Sprech und Management-Literatur
aus. Glaeser beschreibt die Welt aus der
Sicht der Mächtigen, der Entscheider, Präsidenten
und Bürgermeister, wenn es historisch
wird: der Sultane und Könige und Imperatoren.
Glaesers Kernthesen: Die Stadt ist ökologisch
sinnvoll, Vorstädte – Glaeser nennt
sie »ex-urbs« – sind Energieverschwendung.
Alte Gebäude gehören abgerissen und durch
Höhere ersetzt. Nur so lässt sich Dichte herstellen,
und die ist die Voraussetzung für
Austausch, Konkurrenz und neue Geschäftsideen.
Auch Lefebvre lehnt das Vorstadt-Eigenheim mit
Garten als stadtfeindliche Utopie ab, die nostalgisch
am Prestige des feudalen Landbesitzes hängt. Doch die
feinsinnige Idee der verdichteten Unterschiedlichkeiten,
die Lefebvre der Vorstadtsiedlung entgegen setzt,
gerinnt bei Glaeser zu einem geschichtsvergessenen,
darwinistischen Baulöwenszenario: Bauvorschriften
gehören beseitigt, Denkmalschutz hält den Fortschritt
auf, Bürgerbewegungen stehen für Glaeser generell
unter »Not in My Backyard«-Verdacht.
Angelehnt an die TV-Serie »Sex and the City« drehen
sich zwei Seiten des Buchs um Schuhe. Glaeser
rechnet vor, dass die Menschen in New York nicht
mehr ins Theater gehen, sondern in teure Restaurants.
Das sei für die Wirtschaft auch viel besser und führe
zu einer Verfeinerung der Kochkultur. Falls unser Bürgermeister
sich diesen Rat zu Herzen nehmen sollte,
dürften für Theaterfreunde und Kunstliebhaber öde
Zeiten anbrechen.
Trotzdem ist der Text übers Kochen vielleicht noch
der Beste im ganzen Buch. Denn hier entfaltet sich genau
die Offenheit für das Fremde, für die Metropolen
wie New York stehen. Ein Wert, den Glaeser vehement
verteidigt, und für den er zahlreiche Beispiele anführt.
Eine solche Offenheit war bisher nicht die Linie von
Olaf Scholz. Ob die SPD nach der Glaeser-Lektüre
von ihrer restriktiven Einwanderungspolitik abrückt?
Scholz, der als Innensenator 2001 den polizeilichen
Einsatz von Brechmitteln genehmigte, schmeckt
vermutlich jenes Kapitel gut, in dem Glaeser vorrechnet,
was für eine heilsame Wirkung die verschärfte
Law-and-Order-Politik auf US-Städte hat: Die seien
seit den sechziger Jahren viel sicherer geworden, weil
die bösen, gefährlichen Menschen heute nicht mehr
auf der Straße rumlaufen, sondern eingesperrt seien. Tatsächlich sitzen
heute 6,4 Millionen Amerikaner in Gefängnissen – 1965 waren es noch 1,8
Millionen. Die Ökonomie hinter dieser Gefängnisindustrie zu erklären,
erspart sich Glaeser, und Ethik ist nicht sein Business.
Glaeser schreibt auch über Bangalore. Ich war in den irregulären Vierteln
und in der indischen Softwaremetropole und finde, dass die dramatisierenden
Beschreibungen von Mike Davis in seinem Buch »Planet of
Slums« unmöglich sind – sie gehen an den Potentialen der irregulären
Siedlungen vorbei. Glaeser gesteht den Slums immerhin eines zu: Sie verbessern
die Lebensbedingungen ihrer Bewohner gegenüber dem verelendeten
Leben auf dem Lande – wie Metropolen insgesamt in punkto Gesundheit,
Ernährung und Einkommen besser abschneiden als das Land
oder Kleinstädte, was Glaeser immer wieder mit Zahlen unterlegt. Ansonsten
sieht er irreguläre Städte als Zeichen für den Erfolg einer Stadt –
und nicht als Ursache dieses Erfolgs. Dass die rasante Dynamik der indischen
Softwareindustrie ohne die ausbeuterischen Zustände in der
informellen Zuliefer- und Servicestruktur drum herum undenkbar wäre,
wird genauso wenig erwähnt wie der Erfindungsreichtum der kleinteilig
organisierten Produktionscluster. Im Viertel Patparganj in Delhi, früher
weltberühmt für seine Garnproduktion, wird heute ein Drittel aller
Kabel Indiens hergestellt.
Wissenschaftler fanden in
hundert untersuchten Betrieben
nur zwei gelernte
Kräfte – alle anderen
hatten sich das Wissen
gegenseitig selbst beigebracht.
Doch so nah ran geht
Glaeser nicht – so genau
will es sein Ökonomismus
auch gar nicht wissen.
Wert entsteht für ihn
nicht in schmuddeligen
Vierteln, sondern in Anwaltsbüros,
Double-Income-
Haushalten, Universitäten,
bei Start-Ups
und in Bürgermeisterbüros.
An dieser Stelle entpuppt
sich sein Buch als Klientelschreiberei. Kein Wunder, dass Scholz
das gefällt – er ist als Zielgruppe gemeint. Die Upper Class, die Vorstadtvillenbesitzer
fasst Glaeser recht sanft an. Wahrscheinlich wohnen immer
noch mehr potentielle Buchkäufer aus Management und Administration
dort als in den gentrifizierten Innenstädten. Konsequenterweise kommt
der Begriff Gentrification in dem Buch gar nicht vor.
Richtig Dresche gibt’s dagegen – und das fällt unangenehm auf – für
progressive Frauen, Bürgerrechtler und schwarze Bürgermeister: Er hackt
auf der Schriftstellerin Jane Jacobs herum – in Glaesers Augen eine Aktivistin
und die Mutter des NIMBYism. Er lastet – völlig unfair – der Umverteilungspolitik
des damaligen Bürgermeisters von Detroit, Coleman
Young, den Niedergang der Stadt an. Drei, vier Seiten lang polemisiert
Glaeser gegen den afroamerikanischen Politiker und alle seine Entscheidungen.
Erst ganz am Schluss des Kapitels erwähnt Glaeser beiläufig, dass
in dessen Regierungszeit zufällig der Zusammenbruch
der Autoindustrie fiel. Die größten
Autokonzerne der Welt – Ford und General
Motors – zogen ihre Produktion aus
Detroit ab – woran Young nun wirklich
nicht die Schuld trifft.
Dabei ist das Scheitern von Städten mit
kommerzieller Monokultur eines von
Glaesers Hauptthemen. Bekannt wurde
Glaeser nämlich bereits mit Mitte zwanzig
durch eine Studie, die herausfinden wollte,
ob diejenigen Städte erfolgreicher sind, die
sich auf einen Sektor spezialisieren – sagen wir: Textilverarbeitung,
Autoindustrie oder: Finanzmarkt – oder
solche Städte, die auf kommerzielle Vielfalt setzen. Die
Studie sorgte für Wirbel: Glaeser wies nach, dass die
vielfältigen Städte erfolgreicher sind als die monokulturellen.
Das wiederum könnte ernste Konsequenzen für
die Hamburger Politik haben. Die ließ sich ihre Maßnahmen
in jüngster Zeit immer stärker von Marketingstrategien
diktieren. Und für die ist alles, was den
Markenkern nicht stützt, überflüssig, verzichtbar,
nicht förderwürdig. Bei einem »maritimen Medienund
Technologiestandort« bleibt da nicht viel. Deshalb
machen Künstler öffentlich geförderte Hafensafaris,
werden Millionen in Tamms Marine-Museum und die
schlecht besuchte Ballinstadt (»Port of Dreams«) gesteckt.
Die Einseitigkeit der aus dieser Marke abgeleiteten
Politik wäre vermutlich auch in Glaesers Augen
verderblich. Denn all diese markenbildenden Events,
oft initiiert von der Handelskammer, meistens bezahlt
vom Steuerzahler, riechen bereits muffig. Wie man auf
St. Pauli sagt: Die Queen Mary 2 wird bei jeder Fahrt
ein bisschen kleiner. SAP verlässt die Hafencity, das
Bezirksamt Mitte muss in die auf dem freien Markt
nicht nachgefragten, teuren Büroflächen ziehen. Die
maritime Imagecity nutzt sich ab. Ausgerechnet jetzt,
in der Phase ihres Niedergangs, nähert sich ihr allergrößtes
Projekt, die Elbphilharmonie ihrer (reichlich
verspäteten) Vollendung.
Macht Scholz nun Schluss mit den Leuchtturmprojekten?
Für die Landmark-Großbauten hat sein
Lieblingsprofessor wenig übrig. Dem vielzitierten
»Bilbao-Effekt« kann Glaeser nicht viel abgewinnen.
Bilbao setzte sich durch das teure Guggenheim-Museum
von Gehry als post-industrielle Kulturstadt in
Szene und versprach sich davon Boom, Touristen
und generellen Aufschwung.
Gnadenlos verrechnet Glaeser die in Bilbao entstandenen
900 Arbeitsplätze mit der erheblichen Investitionssumme
von 250 Millionen Dollar – und
warnt andere Städte ganz ausdrücklich davor, dem
Beispiel zu folgen. Für Hamburg kommt die Erkenntnis
in jedem Fall zu spät. Oder wird Scholz nun den
Bau der Elbphilharmonie, strategisch abgekupfert von
Bilbao, architektonisch weit weniger konsequent und
nicht so anspruchsvoll, noch stoppen? Wohl kaum.
Wir leben in unruhiger werdenden Zeiten. Gerade
in der Stadtentwicklungspolitik werden die Fehler und
Defizite des neoliberal verschärften Marktplatzes besonders
deutlich, und die Immobilienkrise in den USA
war darüber hinaus der Auslöser der letzten Krise. Gentrifizierung
wird zum globalen Leitziel der Stadtpolitik.
Auch dagegen richten sich die neuen, über den ganzen
Erdball wachsenden Proteste – und sie werden in Städten
ausgetragen. Zu all dem hat Glaeser wenig zu sagen.
Auch die SPD hat die Signale der neuen Basisbewegungen
nicht verstanden. Was sie in Hamburg auf
die Agenda gesetzt hat, ist die Erreichung der gesetzten
Kennzahlen an Neubauwohnungen. Damit knüpft
sie ungebrochen an jene Epoche industriellen Städtebaus
der 1960er Jahre an, die man in der Wissenschaft
eigentlich durchgängig als »Krise der modernen
Stadt« bezeichnet. Der Unterschied: Was jetzt entstehen
soll, hat sich von den bürokratisch errechneten
Resten eines sozialen Anspruchs verabschiedet, die damals
mit technokratischen Mitteln befriedigt werden
sollten.
Mir fällt dazu der berühmte Satz aus Walter Benjamins
Passagenwerk ein: »Das kommende Erwachen
steht, wie das Holzpferd der Griechen, im Troja des
Traums. Die ersten Weckreize vertiefen den Schlaf.« \\

* ed Glaeser: triumph of the City. how our Greatest
invention makes us richer, smarter, Greener, healthier and
happier, penguin press, 352 seiten.

 

Originaltext von Christoph Schäfer erschienen in:

Hawaii 02, Magazin des Deutschen Schauspielhauses Hamburg