Denkschrift Kreative Quartiere Hamburg für die Wildes Kapital Konferenz, World Trade Center Dresden, 2005 Patriotische Gesellschaft

Eine Weltbürgerrechtszonetm für Hamburg

Kleine Vorgeschichte des Projekts: die Stadt Hamburg sieht ihr Konzept der Wachsenden Stadt scheitern: man hatte zu sehr auf die Ansiedlung von Großunternehmen und Großverdienern gesetzt, auf Leute die es so gar nicht gibt bzw. die es in der gewünschten Zahl so nicht gibt, und die ohnehin überall in der Welt den roten Teppich ausgerollt bekommen, um sich dort anzusiedeln. Die Hafencity droht zu scheitern, gut die Hälfte der Planung sind in ihrer Realisierung gefährdet.

Die Aufwertung und Gentrifizierung wirkt sich auf einen Stadtteil und einzelne Gebäude zwar wertsteigernd aus, doch die damit verbundene Verdrängung, Vereinheitlichung und die Langeweile bewirken für das Stadtganze auch wirtschaftlich eine Gefahr.

Man hat dann vor zwei Jahren begonnen zu merken, daß eine Wirtschaft eine Schattenwirtschaft braucht, um zu florieren. Hamburg ist zu sauber, zu kontrolliert und damit zu unflexibel geworden, um im globalen Wettbewerb noch mithalten zu können. Junge Leute, die an einem experimentellen Umgang mit ihrer Lebenszeit interessiert sind, werden von den hohen Mieten abgeschreckt, Musikunternehmen wandern nach Berlin ab, kurz: der kreative Sumpf, aus dem die neuen Arbeitsplätze der postfordistischen Wirtschaft entstehen, ist trockengelegt. Das sicher gewordene St. Pauli verliert jedes Jahr mehr Besucher.

Eine gefährliche Abwärts-Spirale drohte zu beginnen: Etabliertheit, Verbürgerlichung, Law & Order Mentalität, Langeweile, Abwanderung, Mietpreiskollaps, Leerstand, zusammenbrechenden Immobilienpreise, Verlust der Kreditwürdigkeit für Kapitalbesitzer, Pleitewellen, Steuerausfälle, Zusammenbruch der öffentlichen Infrastruktur und daraus folgenden immer grösseren Auswanderungswellen.

Metropole Hambrug – Wachsende Stadt

Hamburg erinnerte sich nun auf der einen Seite an seine Geschichte. Als Folge der Religionskriege in den spanischen Niederlanden flüchteten viele lutherische und kalvinistische Holländer nach Hamburg, so daß sich die Einwohnerzahl von 1550 bis 1600 auf 40000 verdoppelet. Durch die Aufnahme der Glaubensflüchtlinge sowie von zahlreichen Juden aus Spanien, Portugal und Teilen Deutschlands, aber auch durch die Niederlassung englischer Kaufleute in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfuhr Hamburg auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet eine intensive Belebung. 1621 war Hamburg die grösste Stadt Deutschlands.

Kreative Stadt

Ausserdem blickte der Senat nach Amsterdam, wo bereits einige Jahre zuvor der Zusammenhang von Niedergang der Hausbesetzerbewegung und zusammenbruch der Creative Industries festgestellt worden war. Dr. Jaap Draaisma, kultureller Aktivist und Ex-Hausbesetzer, war dort 2003 mit dem Projekt Stad in Beweging betraut worden, weil das Kreative Potential die Stadt fluchtartig nach Antwerpen, Rotterdam und Berlin verliess – ganz ähnlich wie in Hamburg.

Draaisma's Job ist es, den ehemals durch Hausbesetzungen erschlossenen Möglichkeitsraum bis zum Jahre 2006 durch legale Räume zu ersetzen, und mindestens 1600 experimentelle Studios und Ateliers zu billigsten Preisen zu erschliessen, die im Stadtentwicklerslang "breeding places" genannt werden – schmuddelige Orte für Experimente und Erfindungen, den Gesetzen des Marktes und den hohen Preisen für einen Zeitraum zwischen 10 und 20 Jahren entzogen.

Hamburg hat also gesehen, dass so etwas funktioniert und denkbar ist. Die Stadt ist aber doppelt so gross wie Amsterdam, und kann nicht, Postfordismus hin oder her, von Kreativität allein leben. Hamburg hat gegenüber anderen Städten einen ganz besonderen Vorteil, nämlich: einen Hafen.

Nicht irgendeinen Hafen, sogar einen Freihafen, also eine exterritoriale Zone ausserhalb des bundesrepublikanischen und des EU-Rechts.

Sprung über die Elbe

Wir wurden dann zusammen mit einer Gruppe von Urbanistinnen, Wirtschaftsfachleuten, Architekten und Juristen in eine Kommission geladen, um ein Konzept für eine Experimentalstadt ausserhalb des engen Rahmens bundesrepublikanischen Rechts zu entwickeln. Durch den Erfolg von Park Fiction und den damit verbunden Netzwerk- Kompetenzen, der Kooperation mit Hafenstrasse, Hausbesetzungen, Subkulturen und Pudel Klub, hatten wir unds für den Job qualifiziert.

 

Die am schnellsten wachsenden Metropolen der Welt entstehen zum grössten Teil ohne das Zutun von Architekten als irreguläre Selbstbau Siedlungen, oder Squats. Diese Fähigkeiten im Städtebau des Südens will sich Hamburg zu Nutze machen, und hat einen 2 Quadratkilometer grossen Teil des Hafens rund um das ehemalige Afrikaquai von allen Bauauflagen befreit, einen grossen Teil des Indiahafens zugeschüttet und als Selbstbauland ausgeschrieben.

Die Stadt wird in den nächsten Jahren auf dem Kleinen Grassbrook entstehen, und es wird dort nicht nach Papieren oder Aufenthaltsgenehmigungen gefragt.

Tatsächlich waren einige der ersten Siedler eine Gruppe von blinden Passagieren. Hier muss auch erwähnt werden, das Kapitäne Hamburg nur noch ungern ansteuerten, weil die rigide Abschiebepraxis hier den individuellen Kapitänen die Kosten für eine Abschiebung in Rechnung stellte. So entstanden Schäden für das gerade mit Milliardenbeträgen ausgebaute Eurogate.

Hamburg braucht nämlich – wie ganz Deutschland – dringend Einwanderer. Da aber ein Grossteil der Bevölkerung an dieser Stelle rationaler Argumentation nicht zugänglich ist, und damit eine lockerere Einwanderungspolitik mittelfristig nicht durchsetzbar zu sein scheint, dreht man hier einfach den Spiess um, und erklärt einen Teil der Stadt als Ausserhalb des Staates liegend – Suitcase City.

Damit rüttelt die Suitcase City Grassbrook an den Grundfesten der Vorstellungen von Stadt und Staat: in der gewöhnlichen Geschichtsschreibung werden beide nämlich häufig gleichgesetzt, als wäre das eine zwangsläufig aus dem anderen entstanden. Gerade in der Europäische Geschichte gilt ja die griechische Stadt als Idealfall, mit ihren maximal 40000 Einwohnern, die alle gleichzeitig ins Theater und ins Plenum passen. Doch scheint uns die Urbanistische Diskussion nun an einem spannenden Punkt angelangt zu sein, an dem klar wird, dass die Stadt auch ein genaues Gegenmodell zum Staat und zu den Vorstellungen demokratischer Homogenität und öffentlicher Kontrolle zu sein scheint.

Stadtluft macht frei, das ist ein Versprechen der Stadt, dass immer wieder neu Erfunden und eingelöst wird. Erfolgreiche Beispiele von Städten ausserhalb staatlicher Macht wurden als Vorbilder untersucht: etwa Kowloon Walled City, eine Stadt mit zuletzt knapp 60.000 EinwohnerInnen, die bis zur Rückgabe Hongkongs an China ausserhalb der Staatsgrenzen zwischen der Kronkolonie und Rotchina gebaut worden war, über 40 Jahre in Selbstverwaltung entstand, immer weiter Wuchs, und durch einen Rundgang im dritten Stock verbunden war. Kowloon beherbergte alles das was in Hongkong verboten war: Blue Movie Cinemas in den 60erjahren, Spielhöllen, Traditionell-Chinesische Ärzte und Apotheken, die in Hong Kong keine Niederlassungslizenz bekamen, Flüchtlinge, etc.

Stop Shrinking Cities

Die Weltbürgerrechtszone ist nicht entstanden, um das Bewusstsein zu ändern, sondern um Probleme zu lösen: Jeder Neugrassbrooker bekommt einen Plot Land zugewiesen. Die Stücke sind derzeit noch relativ gross (200 qm Grundfläche), um zu Anfang Ackerbau und Tierzucht im kleinen Massstab, in einer späteren Phase den Ausbau der Parzelle zum Mehrfamilienhaus zu ermöglichen.

Das Land darf man nur behalten, wenn man innerhalb von 2 Wochen ein Haus oder eine Hütte gebaut hat und dort wohnt. In einem zweiten Modell, das bereits begonnen hat, werden Plots in existierenden Gebäuden – ehemaligen Lagerhallen und Bananenschuppen zugewiesen. In einer Reihe von workshops mit Experten für Leichtbauweise haben wir eine Wunschproduktion für diese Siedlung mit den ersten Bewohnern und Interessentinnen durchgeführt.

Diese Plots sind sehr viel kleiner (Grundfläche 100qm) und werden meist sofort von den Neusiedlern als Ladenlokal genutzt: Waren, die im Hafen vom Laster gefallen sind werden hier verhökert, gefälschte Markenklamotten an die preisbewusste Grosststadtjugend verkauft, geklaute Handys verdealt, etc. Aktuell ist die Weltbürgerrechtszone Hamburg wohl der einzige Ort, an dem man neue Textilienimporte aus China kaufen kann, derzeit zu Schnäppchenpreisen.

Auf diese Weise funktioniert der Grassbrook bereits jetzt auch als Ort der die Lebensqualität der verarmenden deutschen Vorstadtbevölkerung hebt: auf dem Parkplatz ist häufig mehr los als bei Ikea, und es wird nicht nur eingepackt sondern auch getauscht, geliefert und verkauft. Perspektivisch sieht Hamburg in dem Experiment eine Chance, sich als aufgeschlossene und experimentierfreudige Hansestadt zu präsentieren, wie hier bei einem Sponsorenabend im Rathaus.

Gleichzeitig freut man sich hier, etwas für die Menschenrechte zu tun, ohne dass damit grosse Kosten verbunden wären. Schon jetzt sorgt die Suitcase City für urbane Gerüchte. Eine Selbstverwaltungsorganisation der Bewohner arbeitet bereits.

Wir rechnen damit, dass die Stadt in etwa 7 Jahren eine so hohe Dichte hat, dass man auch subjektiv von einem städtischen Gefüge Sprechen kann. Als Brückenkopf für den Sprung über die Elbe – dem Leitziel der Bauausstellung 2013 in Hamburg, hat Suitcase City bereits jetzt die Erwartungen übertroffen.

(c) Margit Czenki und Christoph Schäfer, Wild Capital Conference, World Trade Center Dresden, September 2005